Dienstag, 30. Juli 2013

Tafeln, die Abwärtsspirale der Menschlichkeit

von Annette Ludwig

Freiheit ist denkbar als Möglichkeit des Handelns unter Gleichen. Gleichheit ist denkbar als Möglichkeit des Handelns für die Freiheit.“ (Hannah Arendt)
Die vermeintlich wohltätigen Tafeln sind ein Skandal. Der tatsächliche Skandal dabei ist ein politischer. Wie kann es sein, dass Menschen für Lebensmittel Schlange stehen müssen, für Lebensmittel, die andere nicht mehr wollen? Wie kann es sein, dass Menschen wie Leibeigene ihren Feudalherren und -damen gegenübertreten müssen, um etwas zu essen zu bekommen? Hörig müssen sie dann auch noch „Bitte“ und „Danke“ sagen für Abfall, der von den Tischen der Gesellschaft abfällt. Anlaufstellen einer verfehlten Sozialpolitik, das sind Tafeln und nichts anderes!

Um der üblichen Kritik zu dieser Feststellung gleich die Basis zu entziehen: Die Stärkung der Sozialsysteme ist die Lösung, muss die Lösung sein. Und keine organisierte Verfestigung der Armutsstrukturen. Solange es diese Stärkung jedoch nicht gibt, im Gegenteil ihr immer weiterer Abbau in ganz Europa entgegentritt, sind Tafeln leider noch unerlässlich. Um das Elend einer Nutzung von Tafeln erträglicher zu machen, sollten diese durch die Betroffenen selbst organisiert sein. Hierbei sollten karitative Strukturen lediglich das Know-how zur Verfügung stellen, Organisation und Regularien indes sollen von den Betroffenen selbst organisiert werden. Dies würde zumindest ein wenig Autonomie an die Betroffenen zurückgeben und hier auch tatsächlich einen Prozess der Beteiligung fördern.

Das ungewollt böse Spiel mit der Bedürftigkeit
Ohne böse Absicht zu unterstellen: Derzeit spielen Tafeln und ihre edlen Tafeldamen/-herren ein Spiel mit den Betroffenen. Die Prüfung der Bedürftigkeit, das Ausgeben von Nummern und das Hose-runter-Lassen sind ein wesentlicher Teil der Tafel (un) Kultur. Man muss sich melden, wenn man z. B. krank ist, und wird dann wie ein Schulkind mit einem „E“ (für „entschuldigt“) in der dicken Kladde der Tafelbürokratie vermerkt. Unübersehbar ist, dass die Behandlung von Betroffenen jener von kleinen Kindern gleichkommt.

Vom Kunden zum gefesselten Nutznießer einer Überflussgesellschaft
Das Abholen von minderwertigen Waren bei einer Tafel hat nichts mit einem normalen Einkauf zu tun. Die Betroffenen durchlaufen Module, z. B. das „Brotmodul“. Es gibt natürlich NICHT die gleichen Lebensmittel wie sie dem breiten Teil der Gesellschaft zur Verfügung stehen, sondern Lebensmittel, die abgelaufen sind oder die einfach keiner sonst wollte. Tafeln sind eine andere Form von Müllhalden.

Pädagogische Überzeugungstäter in der Form der Ausgabemenschen
Natürlich verkehren Menschen, die Almosen empfangen, nicht auf gleicher Augenhöhe mit den netten ehrenamtlichen Helfer_Innen. Wie denn auch? Die einen sind so im Abseits unserer Gesellschaft, die andern meinen diese mit ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit, die letztlich Armutsstrukturen verfestigt, bessern zu können. Aber sozial können nur Maßnahmen sein, auf die man einen Anspruch hat. Tafeln sind Almosen und gerade mit herablassender Nettigkeit und Freundlichkeit dezidiert nicht sozial. Es ist falsch, der Tatsache nicht ins Auge sehen zu wollen, dass Tafeln dem Prinzip der „Armenküchen“ folgen. Die Betroffenen entbehren jeder Wahlfreiheit. Schon die erste Entscheidung, die Tafel überhaupt zu nutzen, ist keine freie Entscheidung, sondern durch Agenda-Gesetze und prekäre Beschäftigung aufgezwungen.
 Das Lächeln der Betroffenen wird von den HelferInnen oft als wichtigste Belohnung für ihre ehrenamtliche Tätigkeit genannt. Sicher würden sie gerne darauf verzichten, wenn sie wüssten, wie unendlich hoch der Preis ist, den die Betroffenen für dieses Lächeln zahlen!

Die freie Entscheidung endgültig genommen
 Auch wenn man einen Bittsteller „Kunden“ nennt, so bleibt er doch ein Bittsteller. Sie/er ist das im Jobcenter oder eben bei der Tafel. Noch schlimmer ist, dass die Betroffenen sich so fühlen! Als Bittsteller hat man keine Wahl, denn man muss nehmen, was von den Tafeln der Reichen an Krümeln herunterfällt. Nach unten durchfällt …

Der wahre Preis der Betroffenen für die Tafelnutzung

Die Politik weiß genau, dass immer mehr Menschen in verfestigten Armutsstrukturen leben müssen. Soziale Aufstiege aus verfestigten Armutsstrukturen sind empirisch kaum noch zu verzeichnen. Eine umfassende und dauerhafte Ausgrenzung von Menschen bedeutet jedoch, dass diese sich irgendwann selbst abwerten. Diese Abwertungen machen krank. Seelisch und körperlich. Auch daraus entstehen nicht unerhebliche Kosten. Gesundheitliche Kosten kann man insbesondere bei älteren Betroffenen genau erkennen. Reiche Frauen leben gut 8 Jahre, reiche Männer knapp 10 Jahre länger. Wer dauerhaft arm ist, verliert den Anschluss an soziale und kulturelle Teilhabe und wird krank.

Kein anderes Wort wie Hartz IV zeigt die Grenze zwischen innen und Außen so stark auf! Betroffene „fallen in Hartz IV“ wie in einen Abgrund, eine Grube aus der man (wenn überhaupt) nur noch mühsam und qualvoll wieder rauskommen kann.

Gesellschaftlicher Schulterschluss, Armut mutig sichtbar machen!
 Immer wieder finden Veranstaltungen zum Thema Armut statt. Von Kirchen, Verbänden, manchmal von Parteien. Auch immer wieder als Reißer in Talkshows. All dieser Kram ist stark ritualisiert und oft medial ausgenutzt oder einfach eine Plattform für Selbstdarsteller_Innen aus Gesellschaft und Politik. All dies führt zu nichts, was den Betroffenen hilft. Solange wir hier in Deutschland und Europa noch nicht zu einem politischen Wechsel gelangen, kann und muss die Übergangslösung selbstverwaltete Hilfe der Betroffenen sein. Ihnen muss öffentlicher Raum und Material zur Verfügung stehen, um sich selbst und autonom organisieren zu können. Keine Helfer_Innen, keine Regeln, die sie nicht selbst aufstellen, keine dekadenten Charityladys, die sich auf  Kosten der Bedürftigen profilieren. Wöchentlich sollten Betroffenen sich auf öffentlich stark frequentierten Plätzen artikulieren und auf ihre besondere Situation in der Gesellschaft aufmerksam machen.

Mit diesen Vorschlägen werden gleichsam Grundlagen vorbereitet, die in einer gerechteren neuen Gesellschaft zum Tragen kommen können: Autonomie, Selbstverwaltung, nur selbst gewählte Regeln, die Nutzung öffentlicher Räume, die sichtbare Kommunikation und Gemeinschaft in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.

Proteste
Tafeln sind nur ein Aspekt einer Gesellschaft, die aufgehört hat zu funktionieren. Gegen Tafeln und andere Symptome dieser Zustände gilt es zu protestieren! Gemeinsam mit anderen Aktivist_Innen werde ich aktiv an den Blockupy Krisen-Protest-Tagen in Frankfurt/Main teilnehmen. Am 27. Mai um 15.30 Uhr werden wir gemeinsam eine Aktion vor und in Zeitarbeitsfirmen in Frankfurt starten. Sichtbare Aktionen, das ständige Thematisieren von Armut, prekärer Beschäftigung und verfestigten Armutsstrukturen, müssen täglich immer wieder aufs Neue in der Gesellschaft sichtbar gemacht werden. Denn nur wenn es eine breite Solidarisierung mit Menschen geben wird, wird genügend Druck auf die Herrschenden gemacht werden können, um diese untragbaren Zustände zu ändern!













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